Aktive aus Marzahn-NordWest wollen mit Römern kooperieren
23.03.2019, Birgitt Eltzel
Rom/Marzahn. Gleich zwei Mal wurden in der vergangenen Woche neun Frauen und Männer aus Marzahn-NordWest im Saal des Municipio Roma XI Arvalia-Portuense, einem der 15 Verwaltungsbezirke der italienischen Hauptstadt, begrüßt. Stefano Lucidi, Assessore Politiche del Patrimonio, Abitative e della Mobilità (Assessor für Wohnen und Mobilität; Moviemento Cinque Stelle) sowie Mitglieder von Vereinen und Initiativen empfingen die Marzahner. Die Aktiven aus Berlin, darunter Vertreter des Aussiedlervereins Vision e.V., der Spielplatzinitiative Marzahn e.V. und weitere Ehrenamtliche, waren auf eigene Kosten nach Rom gereist. Sie interessieren sich für eine mögliche Zusammenarbeit und einen Erfahrungsaustausch mit Menschen aus dem elften römischen Verwaltungsbezirk. Dieser liegt, ebenso wie Marzahn-Hellersdorf, an der Peripherie der Hauptstadt, hat in etwa die gleiche Größe – und ebenso mit Vorbehalten aus besser situierten Gegenden zu kämpfen.
Problematische Stadtutopie
Denn hier wie dort gibt es Siedlungen des sozialen und Massenwohnungsbaus – Gebiete, die mit dem Anspruch gestartet waren, wenig begüterte Menschen günstig mit relativ komfortablem Wohnraum zu versorgen. Im Municipio XI liegt der Corviale, „Serpentone“ (Große Schlange) genannt – der als ein Beispiel gescheiterter Stadtutopie gilt. Rund 8.000 Menschen leben in dem zehnstöckigen Gebäude, das sich, mit kleinen Durchbrüchen zwischen den Blöcken, auf einer Länge von etwa einem Kilometer erstreckt. Gebaut wurde es in den 1970er-Jahren nach Plänen von Mario Fiorentino, einem Schüler Le Corbusiers. Zu dem Komplex gehören auch der „Corvialino“, ein kleinerer Riegel gegenüber dem großen, und der „Freccia“ (Pfeil), ein Wohnhaus, das Richtung Innenstadt zeigt und die Zusammengehörigkeit von Peripherie und City versinnbildlichen sollte.
Fotokünstler gab den Anstoß zur Begegnung
Dass der Corviale und seine Bewohner auch im Marzahner Stadtteil NordWest bekannt wurden, ist einem Fotokünstler und ein bisschen auch dem Zufall zu verdanken. Pasquale Liguori, ein gebürtiger Neapolitaner, der seit mehr als 20 Jahren in Rom lebt, hatte über den Aufbau der Großsiedlung Marzahn und deren Transformation einen Artikel in einer italienischen Zeitschrift gelesen, dann den Dokumentarfilm „Der Himmel über Marzahn“ von Habib Jawadi gesehen. Der studierte Pharmakologe, der auch einen Masterabschluss Business-Administration hat, wurde neugierig. Und machte sich vor mehr als zwei Jahren auf, Marzahn-NordWest zu erkunden, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Corviale in Fotos festzuhalten, LiMa+ berichtete. Daraus entstand die sehenswerte Ausstellung „Impasse – Stadtrand am Scheideweg“ (LiMa+ berichtete). Nach der Premiere im Rathaus Marzahn am Helene-Weigel-Platz im September vergangenen Jahres wurde sie in verschiedenen Einrichtungen im nordwestlichen Marzahn gezeigt. Aus dem Quartiersfonds war das Projekt mit 1.500 Euro bezuschusst worden. Das Geld wurde vor allem für Bilderrahmen und weitere Erfordernisse der Wechselausstellung verwandt.
Viele Ehrenamtliche engagieren sich für Erneuerung
Aus den Begegnungen von Liguori mit verschiedenen Menschen im Stadtteil erwuchs das Interesse einiger Marzahner, sich selbst ein Bild von der Situation an der römischen Peripherie zu machen. Bereits 2018 erfolgte der erste Besuch, nun der zweite. Denn so unterschiedlich die Gegebenheiten auch sind – man kann durchaus voneinander lernen. Die Römer haben bewiesen, wie es durch Initiativen von unten, ohne große staatliche Förderprogramme wie „Soziale Stadt“ und Quartiersmanagements gelingen kann, einem sozial äußerst schwierigen Gebiet wieder neue Hoffnungen zu geben. In Marzahn-NordWest läuft bekanntlich mit dem Jahr 2020 die Förderung im Rahmen des Quartiersmanagements aus. Für die Erneuerung des Corviale engagieren sich inzwischen viele Ehrenamtliche. Der Rentner Pino Galeota beispielsweise, der im Zusammenschluss von Vereinen und Initiativen unter dem Label „Corviale domani“ (Corviale morgen) um Verbesserungen im Wohngebiet kämpft. Es ist mühselig, doch Schritt für Schritt gelingt es, so dem Koloss neues Leben einzuhauchen. Es gibt ein Hausradio, das von 20 Uhr am Abend bis 8 Uhr morgens sendet. Eingerichtet worden war es ursprünglich, weil die Bewohner sich damit vor Gewalt und Kriminalität warnen wollten. Denn auch „die dunkle Seite“, wie die organisierte Kriminalität genannt wird, hatte sich in der heruntergekommenen Wohnmaschine eingerichtet. Pino berichtet, dass Taxis aus der Innenstadt es jahrelang abgelehnt hatten, Fahrgäste dorthin zu befördern.
Calcio Soziale
Mit Hilfe einer Stiftung wurde in den letzten Jahren eine marode Turnhalle zu einem modernen, inklusiven Sportzentrum. Beim Calcio Sociale (Fußball sozial) auf dem nahen Sportplatz treffen sich Kinder und Jugendliche verschiedener Nationalitäten, Menschen mit Handicap und ohne. Es gibt einen viel genutzten Rugbyplatz und eine der am Besten besuchten Bibliotheken Roms, gut ausgestattet mit Medien und einem großzügigen Lesesaal. Und wenn die Idee Pinos und seiner Mitstreiter in Erfüllung gehen sollte, irgendwann auch einmal das größte grüne Dach Europas: „Der Corviale hat schließlich die größte Dachfläche auf unserem Kontinent.“ Doch das ist noch Zukunftsmusik.
“Große Schlange” wird umgebaut
Jetzt ist erst einmal die marode „Große Schlange“ selbst dran: Die vor Jahrzehnten illegal eingerichteten Wohnungen im 4. Stock, wo ursprünglich Läden Platz finden sollten, werden durch den Eigentümer, die Wohnungsbaugesellschaft ATER Roma, seit Januar 2019 schrittweise umgebaut und legalisiert. Die Architektin Maria Giuseppina Ruggeri sagt: „Für das Projekt sind fünf Jahre vorgesehen, wir versuchen es innerhalb von drei Jahren zu realisieren.“ Insgesamt 130 Familien leben derzeit in dem sogenannten Piano Libero, für 103 wird legaler Wohnraum zwischen 40 und 80 Quadratmeter Größe geschaffen. „Den erhalten Familien, die das Anrecht auf eine Sozialwohnung nachweisen können und seit 2005 hier wohnen“, erklärt Ruggeri. In der ersten Phase wurden 15 Familien umgesiedelt. Nach dem Umbau können diejenigen mit bestätigtem Anspruch zurückkehren. „Mit allen wurde vorher gesprochen, niemand wird zwangsgeräumt“, erklärt die Architektin. An den langwierigen Gesprächen hatten sich auch Vertreter der verschiedenen Initiativen und Vereine rund um den Corviale beteiligt. „Gab es am Anfang noch Misstrauen, kommen jetzt die Menschen von sich aus zu uns, um sich für die Legalisierung anzumelden.“ 27 der betroffenen Familien konnten allerdings keine Ansprüche auf Sozialwohnungen nachweisen – sie besitzen teilweise selbst Wohneigentum, das sie vermieten.
Kunstzentrum als Treffpunkt des Quartiers
Zum neuen Aufbruch an der römischen Peripherie trägt die Kunst nicht unwesentlich bei. Beispielsweise Monica Melani mit ihrem Kulturzentrum Mitreo. Das befindet sich nahe des „Serpentone“. Um es einzurichten, nahm die Bildende Künstlerin einen Kredit auf und sammelte Spenden – insgesamt rund eine Million Euro. Geld vom Staat oder aus Förderprogrammen gab es nicht. Allerdings stellt die Stadt Rom die Räume mietfrei zur Verfügung. Mitreo ist ein Treffpunkt für das gesamte Quartier geworden mit zahlreichen kostenlosen Aktivitäten für alle Altersgruppen – von kleinen Konzerten über Mitmach-Aktionen bis hin zum beliebten Kartenspiel Buraco, wozu man sich einmal pro Woche an einem Nachmittag trifft. Melani finanziert das Kulturzentrum hauptsächlich aus verschiedenen Kunstkursen, für die Gebühren gezahlt werden. Zu „Pittura Energetica“ – Malerei nach Quantenphysik – kommen Interessenten nicht nur aus der Innenstadt, sondern aus ganz Italien, erzählt sie.
Graffiti verschönern graue Mauern
Bestaunt werden können im Corviale-Komplex auch zahlreiche Graffiti-Kunstwerke. Trostlose graue Mauern erhielten so in den letzten Jahren attraktive Hingucker. In etlichen Gebäuden, die als Serviceeinrichtungen gedacht waren, aber nie als solche genutzt wurden, befinden sich inzwischen Werkstätten verschiedener Künstler. Nur das Amphitheater, das einst ein Highlight des Gebiets werden sollte, muss noch aus seinem Dornröschenschlaf erweckt werden.
Interesse an Erfahrungsaustausch
Am Ende des Besuchs der Marzahner stand der Entwurf einer Absichtserklärung, die zuvor im Municipio XI im Beisein von Stadtrat Stefano Lucidi gemeinsam beraten worden war: Man möchte die Projekte in beiden Gebieten besser kennenlernen, sich gegenseitig gute Ideen und Möglichkeiten zu deren Realisierung abschauen. Damit will man ganz klein anfangen, beispielsweise mit privat finanzierten Besuchen und der Übernachtung bei Gastfamilien. Später könnten dann Austausche zwischen Vereinen und Jugendbegegnungen stattfinden, eventuell auch Gelder für gemeinsame Projekte aus europäischen Programmen beantragt werden. Matthias Bielor von der Spielplatzinitiative kann sich vorstellen, im Verein Praktikantinnen und Praktikanten zu beschäftigen: „Wir hatten schon öfter junge Menschen aus Italien bei uns. Das könnte man dauerhaft fortsetzen.“ Pino Galeota sagt: „Indem man solche Beziehungen zwischen den Angehörigen verschiedener Nationen fördert, kann man den Rechten das Wasser abgraben, die Mauern der Angst und Vereinsamung durchbrechen, die jetzt in ganz Europa hochgezogen werden.“
Municipio Roma XI/Corviale
Im Municipio Roma XI leben auf etwa 71 Quadratkilometer Fläche rund 155.000 Menschen. Eines der Wohngebiete ist der Corviale-Komplex mit mehr als 16.000 Bewohnern, meist in sehr schwieriger sozialer Lage. Mit 61,89 Prozent der Stimmen wurde Mario Torelli (Moviemento 5 Stelle) 2016 zum Präsidenten gewählt. (Wikipedia).
Der Corviale ist das längste Hochhaus Europas. Er wurde nach einem Entwurf von Mario Fiorentino 1972 bis 1982 auf einem Höhenzug am südwestlichen Stadtrand Roms gebaut. Zu diesem Komplex des sozialen Wohnungsbaus gehören auch Freizeiteinrichtungen und Sportstätten, kleinere Gebäude und Dienstleistungseinrichtungen (Corviale Centro). Viele wurden nach der Errichtung des „Serpentone“, der Großen Schlange, nicht als solche genutzt. Das einst als innere Passage mit Läden und Geschäften geplante Piano Libero im 4. Geschoss des Corviale, das lange leer stand, wurde von Wohnungssuchenden illegal besetzt und von diesen auf eigene Faust zu Wohnungen ausgebaut. Auch Kriminelle hatten sich in dem unübersichtlichen Koloss eingerichtet.
Nach jahrelangem Verfall und sozialer Abwärtsentwicklung war der „Serpentone“ als Ghetto verschrien. Er galt als Abrisskandidat. Nun laufen Maßnahmen zur Aufwertung des Hauses. Es gibt eine Vereinbarung der Bewohner mit der Wohnungsbaugesellschaft ATER Roma, die eine Legalisierung der einst besetzten Wohnungen und den einheitlichen Umbau des Piano Libero zu Wohnzwecken vorsieht. Die Arbeiten haben im Januar 2019 begonnen. Nach den Ergebnissen eines internationalen Architekturwettbewerbs soll künftig außerdem das dunkle Erdgeschoss mit Dienstleistungs- und Handelseinrichtungen aufgewertet werden, um die Monumentalität des Corviale zu durchbrechen. In alle Vorhaben sollen die Bewohner einbezogen werden.
Stefano Lucidi ist als Assessore der Stadtteilverwaltung zuständig für den Corviale und dessen geplante Transformation. Beim Besuch der Aktiven aus Marzahn-NordWest zeigte er sich interessiert an Erfahrungen des Stadtumbaus in Marzahn-Hellersdorf.
Dieser Artikel ist zuerst erschienen bei LichtenbergMarzahnPlus, mit einer großen Auswahl an Fotos abrufbar unter https://www.lichtenbergmarzahnplus.de/zu-besuch-im-corviale/
Wir danken Birgitt Eltzel für die Erlaubnis, den Artikel hier abzudrucken!